Vortrag über das große Erdbeben in Tokyo von 1923

von Bernhard Slominski

Das große Tokyo Erdbeben von 1923

1. Überblick und Einführung

In meinem Vortrag über das große Erdbeben in Tokyo von 1923, möchte ich versuchen, das Erdbeben in die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Taisho Zeit einzuordnen. Ich möchte zeigen wie das Erdbeben nicht nur ungeheure Zerstörungen, sondern auch die politische und wirtschaftliche Entwicklung entscheidend beeinflußt hat. Der berühmte Japanologe "Edward Seidensticker" sieht in seinem Buch "Low City, High City" das Erdbeben als das endgültige Ende des alten Edo der Shogun Zeit und teilt die Geschichte Tokyos in die Zeit vor und nach dem Erdbeben ein.

Als Ausblick soll etwas genauer auf die geographischen Gegebenheiten im Großraum Tokyo sowie den Stand der Erdbebenvorhersage eingegangen werden.

2. Die Situation vor dem Erdbeben

Nachdem in der Meiji Zeit bis 1912 die Entwicklung von Japan zu einem modernen Staat vollendet wurde, wird die Taisho Zeit von 1912 bis 1926 oft als Taisho Demokratie bezeichnet. Es gab ab 1919 das Wahlrecht für alle steuerzahlenden Männer ab 25 für die Wahlen zum Unterhaus. Es bildeten sich Parteien und Gewerkschaften. Es handelte sich um eine Zeit des Umbruchs, in der sowohl linke und rechte Parteien entstanden.

Es standen sich zwei Machtblöcke gegenüber:

  1. Aristokraten, höhere Beamten, konservative Parteien, Geschäftskonzerne (zaibatsu) und Miltärs.
  2. Massenbewegungen, nicht etablierte Parteien für Arbeiter und Bauern, sowie Intellektuelle

3. Das Erdbeben

Am 1.September um 11:58 fand das große Kanto Erdbeben statt. Es hatte eine Stärke von 7,9 auf der nach oben offenen Richterskala. Epizentrum war die Sagami Bucht, die Nachbarbucht der Tokyo Bucht. Dieser Tag ist heute in Japan immer noch ein gedenktag, an dem Katastrophenübungen stattfinden.

Insgesamt starben über 100.000 Menschen von den 2,3 Millionen Einwohnern in Tokyo. Wie bei so vielen Erdbeben starben viele Menschen nicht durch das Erdbeben selbst sondern durch die vielen Brände, die ausbrachen. Da es gerade Mittagszeit war waren viele Gasbrenner an. Die Feuersäulen war noch in 160 km Entfernung zu sehen.

Besonders tragisch war ein Zwischenfall am Sumida Fluß. An einem alten Armeedepot hatten sich 30.000 Menschen versammelt um aus anderen Teilen der Stadt den Flammen zu entkommen. Durch ungünstige Winde wurden sie von verschiedenen Feuern eingekreist und kamen tragisch zu Tode.

Es wurden insgesamt 73 % der Häuser beschädigt. Der Gesamtschaden betrug über 5 Milliarden Yen mehr als 15 % des japanischen BSP. 9000 Fabriken wurden zerstört und 250.000 Menschen wurden arbeitslos.

4. Die unmittelbaren Folgen

Die öffentliche Ordnung brach völlig zusammen. Es kam zu Plünderungen. Außerdem wurden verschiedene Gerüchte gestreut, so z.B. daß die Koreaner die Brunnen vergiftet hätten. Daraufhin wurden mehrere hundert, vielleicht sogar Tausende von Koreanern erschlagen. Außerdem wurden Anarchisten und Kommunisten von aufgebrachten Zivilisten verfolgt und ermordet. Auch die Polizei verhaftete und ermordete vielen dieser Gruppen.

Nachdem sich nach einer Woche die Lage wieder etwas beruhigt hatte, kam das wichtigste Signal zum Wiederaufbau vom Kaiser: In einem kaiserlichen Edikt vom 12.9.1923 heißt es: "Tokyo soll wie bisher Hauptstadt bleiben; deshalb soll es wiederaufgebaut werden und dabei gilt es nicht nur Altes wiederherzustellen, sondern eine neue Ordnung zu schaffen, die eine Entwicklung in die Zukunft ermöglicht."

5. Der Wiederaufbau

Nach dem kaiserlichen Edikt vom 12.9.1923 kam es zu einem umfassenden Wiederaufbauprogramm. Die wichtigsten Maßnahmen:

Schuldenmoratorium, das Schulden aus der Kanto-Ebene zunächst aussetzte.
Ausgabe von Erdbeben Anleihen , im Wert von 430 Millionen Yen für den Wiederaufbau

Die Wiederaufbauprogramme beliefen sich insgesamt auf 1,5 Milliarden Yen und liefen 5-8 Jahre lang.

Es kam in allen Bereichen zu umfassenden Neuordnungen und Umstrukturierungen. Die Neuordnung des Straßensystems, Wiederherstellung der Kanäle und Brücken., Anlage von Grünflächen, Aufbau der zentralen Großmarkthalle Tsukiji, die Errichtung von 106 Volksschulen, von Hospitälern, Wasserwerken, Verkehrseinrichtungen, nicht zuletzt auch die Aufschüttung von Küstenland wirkten sich belebend auf alle Industriezweige aus. Der Aufbau des zerstörten Tokyo kann nach 7 Jahren als vollendet gelten.

6. Die politischen und sozialen Folgen

Die begonnene Liberalisierung der Taisho Zeit erhielt durch das Erdbeben einen starken Rückschlag. Die Ausschreitungen gegen die Minderheiten nach dem Erdbeben wurden teilweise gar nicht und teilweise nur mit geringen Strafmaßnahmen geandet. Dies war ein Zeichen von zunehmenden Nationalismus in Staat und Gesellchaft.

Im Raum Tokyo brachte das Erdbeben auch starke soziale Einschnitte mit sich. Es gab viele Obdach- und Wohnungslose. Politisch führte dies zu einer Polarisierung und Spaltung in der Bevölkerung. Zu einen gewann der Nationalismus an Bedeutung, da der Liberalismus für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme keine Lösung anbieten konnte. Zum anderen kam es bei den linken Gruppierungen zu einer Radikalisierung. Daneben konnte die Gewerkschaftsbewegung einen starken Zuwachs verzeichnen.

1925 wurde dann das Stimmrecht für alle Männer über 25 Jahre beschlossen, gleichzeitig aber auch ein Gesetz zur Sicherung des öffentlichen Friedens, was eine stärkere Kontrolle der Parteien erlaubte.

7. Wirtschaftliche Folgen

Nach dem Erdbeben wurde Japan aus dem Ausland finanziell und materiell unterstützt. Die wichtigsten Hilfsländer waren die USA und England. Die Hilfslieferungen umfaßten die Sofortlieferung von Hilfsgütern und die Vergabe von Krediten 150 Millionen US$ von den USA und 25 Millionen Pfund von England.

Als Beispiel für die Soforthilfe sollen hier 800 Lastwagengestelle genannt werden, die von den USA nach Japan zur Personenevakuierung geliefert wurden. Das Automobil war zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannt und wurde dadurch über Nacht als Transportmittel bekannt.

Weiter Folgen waren ein enormes Außenhandelsdefizit durch die zusätzliche Nachfrage nach ausländischen Gütern durch den Wiederaufbau. Erst 1929 konnte wieder ein Handelsüberschuß erzieht werden. Außerdem sank der Wechselkurs des Yen beträchtlich.

1927 kam es zu einer Bankenkrise, die auch durch eine Debatte über die Erdbebenanleihen im japanischen Parlament ausgelöst wurde. Es wurde eine Umschuldung der Anleihen diskutiert was für einige Banken einen starken Wertverlust dargestellt hätte. Dadurch kam es zu einem Ansturm auf die Banken, was dazu führte, daß 35 Banken schließen mußten. Es wurde ein Bankengesetz erlassen, aber dennoch überlebten viele Banken nicht. Von über 1500 Banken im Jahr 1927 blieben 1932 nur 650 übrig.

8. Zusammenfassung

Das Erdbeben von 1923 hatte vielfältige Auswirkungen im politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Es wurden von vielen als Strafe für das ausufernde Leben in den Großstädten gesehen. Eine alte Legende besagt, daß der Katzenfisch Nanazu unter der Erde lebt und die Menschen durch ein Erdbeben straft wenn sie sich falsch Verhalten. Diese mythologische Erklärung konnte für die psychologische Untermauerung der Abkehr vom Liberalismus zu Hinwendung zum Nationalismus genutzt werden.

Es gibt in der Literatur verschiedene Bewertungen des Erdbebens. Einige Autoren sehen in dem Erdbeben den entscheidenden und direkten Auslöser der Abkehr vom Liberalismus. Bei anderen Autoren spielt das Erdbeben nur eine untergeordnete Rolle.

Es kann zumindest festgestellt werden, daß ein geographisches Ereignis ein tiefgreifenden Wandel in der japanischen Geschichte auslöste. Vorhandene Tendenzen wurden durch das Erbeben erheblich verstärkt. Das Kanto Beben hat gezeigt, daß Erdbeben nicht nur große Zerstörung anrichten können , sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung eines Landes tiefgreifend verändern können.

9. Ausblick: Geographie und Erdbebenvorhersage

Die Kanto Region liegt geographisch sehr ungünstig an verschiedenen tektonischen Platten Grenzen. Deshalb ist diese Region besonders von Erdbeben betroffen.

Zur Erdbebenvorhersage: Die wohl bekannteste Theorie stammt von Kawasumi Hiroshi. Er hat alle Erdbeben in Tokyo seit dem Jahr 818 n.Chr. mit einer Stärke von >5 analysiert und festgestellt, daß durchschnittlich alle 69 Jahr eine größeres Erdbeben stattfindet. Demnach müßte das nächste große Beben von 1992 stattgefunden haben. Allerdings ist dies eine rein statistische Berechnung, die keine geographischen Begebenheiten berücksichtigt und deshalb zur Vorhersage völlig ungeeignet.

Eine wesentlich differenziertere Betrachtung nahm Ishibaschi Katsuhiko vor. Er stellte fest, daß sich die Erdbeben immer in einem gewissen Zyklus ereignen. Zuerst kommen mehere kleinere Beben, ein großes Kanto Beben bildet dann immer den Abschluß dieses Zyklus.

Das vorletzte große Kanto Beben ereignete sich 1703, das nächste Erdbebn der Stärke 6 (jap. Skala) ereignete sich erst wieder um 1855. Daraus läßt sich ableiten, das ein großes Kanto Beben wie von 1923 nicht unmittelbar bevorsteht. Jedoch droht ein kleineres Erdbeben jederzeit.